Als ich eines Abends gezwungenermaßen an unserer Schule vorbei durch die Ritterstraße ging und meine Phantasie in beinahe schon jede dunkle Ecke die Gestalt eines Lehrers projizierte, sah ich plötzlich durch die Fenster der Aula viele bunte Lichter flimmern, und von dort erklang, wenn auch schwach, die Melodie von „Roll over lay down”.
Dieser Sache mußte ich auf den Grund gehen. Schnell erklomm ich sportlich-elegant den mit den netten Eisenspitzen bewehrten Zaun und warf von dort einen Blick in die Aula. Was ich da sah, konnte doch nicht wahr sein! Das konnte doch nur die Ausgeburt meines durch den Schulalltag gehetzten Geistes sein! Außerdem wußte ich, daß ich stocknüchtern war. Als ich mich an die Dunkelheit in der Aula gewöhnt hatte, traute ich meinen Augen kaum. Der Festsaal unserer Schule hatte sich in eine Diskothek verwandelt. Dort, wo sonst der Flügel stand, machte sich jetzt eine komplette Disco-Anlage breit, hinter der zu meinem Entsetzen Herr Lenz fleißig die Platten wechselte.
Auf der Tanzfläche jedoch rockte vom Sound der Musik völlig berauscht beinahe das gesamte Lehrerkollegium. Herr Langemann, in einen perlenbestickten Anzug gekleidet, wirbelte gerade die heute im Afro-Look auftretende Frau Möller-Bartelmann herum. Herr Klein, in Lederjacke und verwaschenen Jeans, wagt mit Hilfe von Frau Bruns, die ihr Erscheinen auf Punk getrimmt hat, eine Todesspirale, während Herr Achilles, im Gewand eines römischen Jünglings erschienen, mit seiner Partnerin Frau Koster aufgrund des spiegelglatten Parketts recht unsanft zu Boden geht.
Und während ich mir dies so ansehe und darüber nachdenke, ob ich nicht doch vielleicht (mal) bei Gelegenheit einen guten Psychiater aufsuchen sollte, werden plötzlich die Fenster aufgerissen; augenscheinlich in der Absicht, diese heiße Szene etwas abzukühlen.
Da höre ich durch die nun weit geöffneten Fenster Herrn Lenzs durch eine Echoanlage gejagte Stimme: „Und hier ist er nun! Licht aus! Womm! Spot an! Da ist Gernot Glitter!!” Merkwürdig, irgendwie kommt mir diese Zeremonie bekannt vor. Auf der nun hell erleuchteten Bühne dröhnen jetzt auch schon die Gitarren und das Schlagzeug einer Band.
Aber der sieht doch aus wie … ! Und richtig, die Symbole Zirkel und Normalparabel auf der Bass-Drum bestätigen meine Vermutung. Der exzellente, in einen Silberanzug gekleidete Gitarrist ist wirklich Gernot Tartsch. Jetzt erkenne ich sie alle. Der Bassist ist niemand anders als (es ist kaum zu glauben) Herr Genning persönlich. Am Keyboard läßt Herr Schmuck seine Finger über die Tasten gleiten, während das Schlagzeug von Herrn Bremer bearbeitet wird. Als das erste Stück endet, läßt sich Herr Lenz wieder hören: „Und jetzt Gernot und seine Parabel-Band mit ihrem Top-Hit ‘Logarithm and Blues’.” Diese Ankündigung wird mit wildem Freudengejohle aus dem Kollegium beantwortet. Nach diesem Song wird Gernot Glitter alias Gernot Tartsch von einem Sänger namens Bob Rylan abgelöst.
Entweder ist es sein Doppelgänger, oder er ist es tatsächlich; denn ich kenne diesen Mann nur als den Historiker Dr. Eckert. Mir steht der kalte Schweiß auf der Stirn. Stöhn! Aber es ist sicher nur eine Verwechselung.
Gerade als dieser merkwürdige Bob Rylan eine mit „Flowing by the wind” bezeichnete Schnulze singt, wird plötzlich die Tür zur Aula abrupt aufgestoßen. Zehn Männer unter breitkrempigen Hüten, in Nadelstreifenanzügen, Geigenkästen unter dem Arm, stürmen in den Raum. Aus dem Kollegium dringt ein einziger Aufschrei: „Arminio Capone!” Ein Mann mit Gamaschen löst sich von der Gruppe. Das unter dem tief heruntergezogenen Hut fast versteckte Gesicht hat geradezu eine frappierende Ähnlichkeit mit dem Armin Hembergers. Ohne Eile steigt er auf die Bühne, von wo sich Bob Rylan schleunigst aus dem Staub gemacht hat, und spricht in die Stille des Schreckens: „Doc Cueller hat seine Schutzgebühr wieder nicht bezahlt. Deshalb werden wir hier jetzt ein bißchen aufräumen. Meine Herrschaften, verlassen Sie das Etablissement!”
In panischer Eile wird die Aula geräumt. Dann öffnen Arminio Capone und seine Leute ihre Geigenkästen, stecken die Trommelmagazine an ihre MPi’s, verwandeln die Disco-Anlage in ein Sieb und bringen sorgfältig eine Lampe nach der anderen zum Platzen.
Da, ein Aufschrei! Nun wird auch Herr Lenz von den Kugeln erreicht. Er hatte sich hinter dem Vorhang versteckt; doch hat er lediglich einige Haare verloren. Aus dem Dunkel höre ich „Verschwinde, du kleiner, mieser Plattenreiter, sonst pump’ ich dich voll Blei!”, worauf Herr Lenz unverzüglich die Flucht ergreift.
Als auch die letzte Glühbirne den Widerstand gegen den Kugelhagel aufgegeben hat, packt die Gang ihre Waffen zurück in die Geigenkästen und verläßt ohne Hast den nun in Dunkel getauchten Raum. Verwirrt und verärgert über die rasche Beendigung der Disco klettere ich vom Zaun herab und mache mich auf den Heimweg.
Als ich am nächsten Morgen heimlich in die Aula spähe, sieht diese aus wie immer. Nichts hat sich verändert; Herr Lenz verkauft wie gewohnt seine Milch, Herr Hemberger bewegt sich wie stets galant durch die Gänge. Selbst Herr Tartsch zeigt keine Spur von „Anomalie”. War das ganze am Vorabend etwa nur ein Spuk? Wohl kaum, denn eine solch blühende Phantasie habe ich nicht; und wer weiß, vielleicht verrät sich ein Lehrer eines Tages…